Liebe Gemeinde!

„Wer nichts wagt, der nichts gewinnt.“

Diese altbekannte Redewendung könnte als Überschrift über dem heutigen Predigttext stehen. Ich weiß nicht, ob die Redewendung von Martin Luther stammt. Jedenfalls hat unser Kirchenvater bereits vor rund 500 Jahren einen ähnlichen Spruch hinterlassen:

„Wo kein Wagnis, da kein Gewinn. Wo kein Spiel, da kein Leben“

Irgendwie scheint dieser Spruch gut in unsere heutige Zeit zu passen: Ängstlichkeit macht sich in weiten Teilen unserer Gesellschaft breit im Blick auf den Corona-Herbst, auf Gasknappheit, auf kalte Wohnzimmer und auf Büros, die nur noch auf 19°C beheizt werden. Wobei ich zum Letzteren sagen muss, dass ich persönlich froh wäre, wenn unsere Stadtkirche im Winter 19°C warm wäre ….. Wie dem auch sei: Ängstlichkeit, Hamsterkäufe und andere panikartige Reaktionen tun uns Menschen und der angespannten Situation nie gut. Stattdessen brauchen die Menschen mehr denn je Mut. Mut, auch gewagte Entscheidungen zu treffen. Mut, etwas anders zu machen.

Das verhält sich in unserer Kirche nicht anders: Vor wenigen Wochen habe gehört, dass die Kirchenaustritte in der evangelischen Kirche Rekordzahlen erreicht haben. Geht es so weiter, dann schrumpft unsrer Kirche jährlich an Mitgliedern im Umfang von 3 Kirchengemeinden unserer Größe (!!). Hinzu kommt, dass inzwischen auch in unserer evangelischen Kirche gefühlt kaum ein Mensch mehr den Beruf des Pfarrers oder der Pfarrerin ergreifen möchte. Das heißt: Noch mehr Gemeindestellen, die noch länger unbesetzt bleiben. Bei uns im nördlichen Teil des Dekanates ist im Herbst jede zweite Pfarrstelle unbesetzt. Das sind erst einmal erschreckende und auch erschreckend realistische Nachrichten. Leicht ist man als Kirchengemeinde verleitet, verzweifelt das festzuhalten, was man noch hat. Aber eigentlich braucht es gerade jetzt Mut. Mut, vieles neu zu denken und auch das eine oder andere zu wagen. Wer nur ängstlich die verbleibenden Überreste alter kirchlicher Strukturen festhält, wird verlieren.

Das ist in der Tat eine Möglichkeit, den für heute vorgesehenen Predigttext für unsere Zeit zu interpretieren. Jesus erzählt im Matthäusevangelium das Gleichnis von anvertrauten Talenten. Ich lese den Text aus der so genannten Basis-Bibel:

„Mit dem Himmelreich ist es wie bei einem Mann, der verreisen wollte. Vorher rief er seine Diener zusammen und vertraute ihnen sein Vermögen an. Dem einen gab er fünf Talente, einem anderen zwei Talente und dem dritten ein Talent – jedem nach seinen Fähigkeiten. Dann reiste der Mann ab. Der Diener mit den fünf Talenten fing sofort an, mit dem Geld zu wirtschaften. Dadurch gewann er noch einmal fünf Talente dazu. Genauso machte es der mit den zwei Talenten. Er gewann noch einmal zwei Talente dazu. Aber der Diener mit dem einen Talent ging weg und grub ein Loch in die Erde. Dort versteckte er das Geld seines Herrn.

Nach langer Zeit kam der Herr der drei Diener zurück und wollte mit ihnen abrechnen. Zuerst kam der Diener, der fünf Talente bekommen hatte. Er brachte die zusätzlichen fünf Talente mit und sagte: ›Herr, fünf Talente hast du mir gegeben. Sieh nur, ich habe noch einmal fünf dazugewonnen.‹ Sein Herr sagte zu ihm: ›Gut gemacht! Du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich bei dem Wenigen als zuverlässig erwiesen. Darum werde ich dir viel anvertrauen. Komm herein! Du sollst beim Freudenfest deines Herrn dabei sein!‹ Dann kam der Diener, der zwei Talente bekommen hatte. Er sagte: Herr, zwei Talente hast du mir gegeben. Sieh doch, ich habe noch einmal zwei dazugewonnen.‹ Da sagte sein Herr zu ihm: ›Gut gemacht! Du bist ein tüchtiger und treuer Diener. Du hast dich bei dem Wenigen als zuverlässig erwiesen. Darum werde ich dir viel anvertrauen. Komm herein! Du sollst beim Freudenfest deines Herrn dabei sein.‹ Zum Schluss kam auch der Diener, der ein Talent bekommen hatte, und sagte: ›Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und du sammelst ein, wo du nichts ausgeteilt hast. Deshalb hatte ich Angst. Also ging ich mit dem Geld weg und versteckte dein Talent in der Erde. Sieh doch, hier hast du dein Geld zurück!‹ Sein Herr antwortete: ›Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du wusstest, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nichts ausgeteilt habe. Dann hättest du mein Geld zur Bank bringen sollen. So hätte ich es bei meiner Rückkehr wenigstens mit Zinsen zurückbekommen. Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer etwas hat, dem wird noch viel mehr gegeben – er bekommt mehr als genug. Doch wer nichts hat, dem wird auch das noch weggenommen, was er hat. Werft diesen nichtsnutzigen Diener hinaus in die Finsternis. Dort gibt es nur Heulen und Zähneklappern!‹«

Liebe Gemeinde! Ich frage zunächst etwas kritisch: Ist es nicht so, dass dieses Gleichnis von Jesus noch mehr Angst schürt, wie viele von uns sowieso schon haben? Jetzt lesen wir auch noch in der Bibel: „Schau bloß, dass du erfolgreich handelst und die anvertrauten Talente vermehrst, sonst schließt dich Gott vom Himmelreich aus.“

Was sind eigentlich „Talente“. Heute verstehen wir darunter umgangssprachlich die Gaben und Fähigkeiten, die jeder und jede von Gott bekommen hat. Damals, zu Zeiten der Bibel, war das Talent die größte gültige Geldeinheit. Etwa 36 kg Silber bildeten ein Talent. Das bedeutet also: Der reiche Mann im Gleichnis vertraut dem einen Diener 180 kg Silber an, dem anderen 72 kg und dem dritten immerhin noch 36 kg Silber. Aus diesen insgesamt 288 kg Silber bestand das gesamte Vermögen des reichen Mannes. Eine für damalige Verhältnisse gigantische Menge Geld. Nun handelt sich bei dieser Geschichte nicht um eine Beispielgeschichte, sondern um ein Gleichnis. Die Geschichte wird nicht im Institut für Wirtschaftsforschung erzählt, sondern von Jesus. Es geht um das Himmelreich, um die Schätze des Himmels, und darum, wie Gott mit diesen Schätzen umgeht – und, wie wir mit diesen Schätzen umgehen …. Die Schätze, das sind wir Menschen mit unseren Talenten, mit unseren Begabungen, mit unserem Wissen, unserer Fähigkeit zu vertrauen, zu lieben und zu hoffen, das ist unsere Leidenschaft, unsere Kreativität, unser Empfinden für Gerechtigkeit und Solidarität.

Gott vertraut uns sein gesamtes Vermögen an, sagt Jesus im Gleichnis. Das wird am Anfang gerne überlesen. Dieses Gleichnis baut nicht Druck auf. Es erzählt erst einmal von einer gigantischen Schenkung. Gott gibt uns alles. Er hält nichts zurück. Er verschenkt sich sogar selbst, indem er Jesus Mensch werden lässt. Jesus stirbt für uns und besiegt den Tod für uns. Was für ein Geschenk in unseren Händen …. Damit beginnt das Gleichnis.

Und nun kommt das Nächste, was uns staunen lässt: All das vertraut Gott uns Menschen an. Ja, Gott weiß, wie die Menschen sind. Er kennt ihre Schwächen, ihre Kurzsichtigkeit und Ängstlichkeit. Trotzdem vertraut Gott uns. Was für eine Ehre! Freilich sagt Gott auch: „Enttäusch mich nicht!“ Freilich bestraft Gott den dritten Diener, weil der nicht in seinem Sinne gehandelt hat. Aber wofür wird der Diener eigentlich bestraft? Es ist ganz wichtig, sich klarzumachen: Der letzte Diener, der das eine Talent Silber vergraben hat, er wird nicht dafür bestraft, dass er keinen Gewinn gemacht hat. Er wird bestraft, weil er einfach nichts getan hat, obwohl er die Möglichkeit und das Geld dazu gehabt hätte. Die Angst, überhaupt etwas zu tun, - das ist das Problem, nicht die finanzielle Bilanz am Ende. Gott ist enttäuscht. Er sagt im Gleichnis zu dem dritten Diener: Ich habe dir doch so viel gegeben. Ich habe großes Vertrauen in dich gesetzt. Warum machst du nichts draus? Es wäre doch so einfach gewesen. Notfalls hättest du das Risiko einfach delegiert und das Geld zur Bank gebracht. Dann hättest du wenigstens etwas damit gemacht. Es ist nicht das Ziel, Geld zu horten und dann zu vergraben. So nützt es niemandem etwas. Es ist nicht das Ziel, deine Gaben und Fähigkeiten zu verstecken. Dafür habe ich dir Talente und Fähigkeiten nicht gegeben. Jesus sagt mit dem Gleichnis: Ich brauche euch Christen gerade jetzt. Gerade jetzt, wo man den Eindruck hat, dass uns alle Felle davonschwimmen. Entdeckt die Schätze, die überall bei euch ungenutzt herumliegen und setzt sie ein! Dann werdet ihr gewinnen.

Ich bin überzeugt: Jesus führt mit dem Gleichnis keinen Leistungsdruck durch die Hintertüre ein. Jesus macht uns Mut: Ja, ihr schafft das. Und miteinander schafft ihr das noch viel besser. Ihr müsst nur aus der Fülle schöpfen, mit der euch unser Vater im Himmel bereits beschenkt hat. Ihr habt alles, was ihr braucht, in eurer inneren Schatzkamm er. Und nun: viel Erfolg ….. !

In diesem Zusammenhang ist es wieder gut, sich an ein paar Zeilen des mittelalterlichen Theologen und Mystikers Bernhard von Clairvaux, dem Mitbegründer des Zisterzienser-Ordens, zu erinnern. Bernhard von Clairvaux schreibt im 12. Jahrhundert etwas ganz Grundsätzliches zum Umgang mit unseren persönlichen Fähigkeiten und Gaben:

„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal. der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. …. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. …. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen, und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. …. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. …. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle, wenn nicht, schone dich.“

Liebe Gemeinde! Mit diesen eindrucksvollen Worten möchte ich euch in die neue Woche entlassen. Geht in dem Wissen: Niemand muss über seine oder ihre Verhältnisse für die Kirche schuften und arbeiten. Aber, wenn du Gottes Reichtum in dir spürst, dann fließe über und vermehre die Gaben, die du selbst von Gott bekommen hast.

Amen.