Liebe Gemeinde!
In meiner Predigt lade ich Sie zu einem Perspektivwechsel ein, zu einem Wechsel des Standpunkts. Perspektivwechsel, Standpunktwechsel sind im Leben wichtig und wertvoll. Wenn ich von einem bestimmten Standpunkt aus einen Gegenstand betrachte, dann sehe ich immer nur eine Seite. Will ich den Gegenstand vollständig erfassen, dann komme ich nicht drum herum, den Standpunkt zu wechseln, dass ich mir die Sache auch von hinten oder von der Seite ansehen kann. Nicht selten kann man bei solchen Perspektivwechseln große Überraschungen erleben.
Ich erinnere mich noch daran, wie das erste mal bei Speinshart auf dem Barbaraberg war und die prächtige Vorderfront der ehemaligen Sommerresidenz des Speinsharter Klosters gesehen habe. Nimmt man sich die Zeit, um das Gebäude herumzulaufen und das Ganze von hinten oder von der Seite zu betrachten, blickt man auf eine traurige Ruine. Denn es wurde in den 70er Jahren auf dem Barbaraberg nur die prächtige Schaufassade restauriert ….
Perspektivwechsel sind nicht nur beim Betrachten eines Gegenstandes oder eines Bauwerkes wertvoll. Perspektivwechsel helfen auch, Texte neu zu entdecken. Texte, von denen man meint, längst zu wissen, was sie aussagen und bedeuten. Durch einen Wechsel des Standpunktes bin ich in der Vorbereitung auf eine ganz interessante Entdeckung im Predigttext für den heutigen Gottesdienst gestoßen. Jesus erzählt dort zwei kurze Gleichnisse. Gleichnisse vom Himmelreich. Ich lese, was der Evangelist Markus im 13. Kapitel aufgeschrieben hat:
„Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker. Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.“
Liebe Gemeinde! Ich fasse zunächst einmal zusammen, wie diese beiden Gleichnisse in aller Regel interpretiert werden: Also: Der Schatz im Acker oder die Perle, - das ist das Evangelium von Jesus Christus oder der Glaube an Jesus Christus. Der Arbeiter auf dem Acker oder der Kaufmann im Gleichnis, das sind wir Menschen. Das Gleichnis sagt uns dann, dass es sich lohnt, alles für den Glauben und das Evangelium zu opfern, da wir dort einen wirklichen Schatz finden. Anstatt sich an vergängliches Gold und an materiellen Reichtum zu binden, sollte man alles daran setzen, um Werte zu erlangen, die unvergänglich und ewig bleiben. Notfalls kann es auch geboten sein, sich aufzuopfern und alles für das Frohe Botschaft hinter sich zu lassen. Weil es sich eben lohnt.
Soweit die gängige Interpretation der beiden Gleichnisse von Jesus. Zu dieser Interpretation passt, dass uns Jesus in der Bibel nicht gerade als Freund der Reichen begegnet. Er selbst und seine Jünger lebten bewusst in Armut. Und das Wort von Jesus, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr passt, als dass ein Reicher in den Himmel kommt, das kennen wir alle. Aber, ehrlich gesagt, ich hatte mit der Auslegung dieses Bibeltextes bisher immer etwas Schwierigkeiten: Ja, das Evangelium ist unendlich wertvoll. Ja, das Himmelreich ist eben nicht zum Nulltarif zu bekommen. Und es nervt, wenn sich Menschen in Rosinenpickermanier immer nur das Schöne und Angenehme aus den christlichen Angeboten heraussuchen. Aber, wenn es anstrengend oder unangenehm wird oder sogar Geld kostet, dann steigen viele aus. Und trotzdem: Es gibt eben ganz viele Menschen, denen ist der Glaube wertvoll und wichtig. Sie sind auch bereit, einiges an Zeit und Geld für ihren Glauben zu investieren. Aber alles verkaufen, alles aufgeben, um Jesus mit aller Konsequenz nachzufolgen, das ist dann doch eine Nummer zu groß. Nicht jeder, der an Gott glaubt, will auf Besitz verzichten und als Mönch ins Kloster gehen. Wir möchten gerne die Schönheiten und Annehmlichkeiten dieser Welt auch ein wenig genießen. Wir haben Verantwortung für unsere Familien und genießen es auch, in den Urlaub zu fahren oder für eine schöne Feier Geld auszugeben. Irgendwie schwingt die gängige Interpretation des Jesus-Gleichnisses doch ein wenig die moralische Keule und macht all den Kirchgängern und Bibellesern erst einmal ein schlechtes Gewissen, weil man ja doch im Leben viele Kompromisse eingeht und etwas Luxus genießt …
Aber, so frage ich: Wird diese gängige Interpretation den Gleichnissen wirklich gerecht? Und hier kommt der anfangs erwähnte Perspektivwechsel in Spiel: Was wäre denn, wenn wir in der Interpretation den Spieß einfach umdrehen, also die Rollen im Gleichnis tauschen? Also, wenn der Kaufmann oder der Arbeiter auf dem Feld nicht der Mensch ist, sondern Gott? Und, wenn der Schatz im Acker oder die Perle nicht das Evangelium ist, sondern wir Menschen. Was würde das konkret für die Auslegung des Textes bedeuten? Es würde heißen: Gott findet im Acker einen wunderbaren Schatz und verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Er verliebt sich so sehr, dass er alles tut, um diesen Schatz für sich zu gewinnen. Und dieser Schatz, das ist der Mensch, das sind wir. Ja, wir Menschen sind der Schatz, sind die Perle, von der unser Gott unheilbar fasziniert ist. Und er tut alles für diesen Schatz: Er sendet Propheten, um ihnen den Willen Gottes nahezubringen. Und er schickt am Ende sogar seinen eigenen Sohn. Dieser Sohn opfert sich auf und geht sogar in den Tod. Gott geht bis zum Äußersten, um diese Menschen zu retten. Die Menschen mit ihren unzähligen Macken, mit ihren Ecken und Kanten, mit ihrem Übergewicht, ihrem Hang zum Streiten und zum Alkohol, mit ihrer Engstirnigkeit und Kleinkariertheit, mit ihrer Umtriebigkeit und Friedlosigkeit und und und. Er hat sie einfach liebgewonnen und kann sich ein Dasein ohne sie nicht mehr vorstellen.
Wir sind der Schatz, liebe Gemeinde, wir sind die Perle. Wir sind unendlich wertvoll für Gott. Und darum setzt Gott alles auf Spiel und geht bis in den Tod. Diese Interpretation der Gleichnisse von Jesus ist ungewöhnlich. Aber abwegig ist sie nicht. In vielen Gleichnissen vom Himmelreich oder vom Reich Gottes ist Gott die Person, die handelt. Gott ist der gute Hirte, der das verlorene Schaf sucht. Gott ist die Frau, die die verlorene Münze sucht. Gott ist der Weinbergbesitzer, der Tagelöhner für die Arbeit einstellt und ein eigenartiges Tarifsystem entwickelt. Gott handelt. Und das entspricht ja auch den Grundsätzen unseres evangelischen Glaubens: Nicht wir müssen uns die Liebe Gottes verdienen, indem wir alles Mögliche leisten oder viel Geld bezahlen. Nicht wir sind die, die sich etwas erarbeiten oder verdienen müssen. Gott kommt uns mit seiner Gnade zuvor.
Liebe Gemeinde! Welche Interpretation der beiden Gleichnisse nun die richtige und wahre Deutung ist, das kann ich nicht sagen. Jesus selbst hat meistens bewusst darauf verzichtet, seine Gleichnisse zu deuten. Beide Interpretationen sind möglich. Aber die zweite Deutung gefällt mir viel besser und hat bei mir in der Vorbereitung einen Aha-Effekt ausgelöst. Ein Gott, der mich so wertschätzt, der so um mich wirbt, den lasse ich nicht links liegen, den finde ich interessant und attraktiv. Freilich ändert das nichts daran, dass ich für den Glauben auch etwas investieren muss. Aber dieser unangenehme moralische Druck lastet nun nicht mehr auf dem Gleichnis vom Schatz im Acker und von dem Kaufmann und der Perle. Stattdessen werde ich in den Gleichnis Zeuge, wie Gott die Initiative ergreift. Und er ergreift sie für mich und für dich. Weil sein Liebe zu uns so unendlich groß ist.
In diesem Sinne möchte ich meine Predigt wieder mit zwei gedichteten Strophen abschließen. Die beiden Strophen bewegen sich im Rhythmus des 6/8-Taktes und sind überschrieben: „Ihr seid es wert“.
Geschätzte Gemeinde, ihr seid es wohl wert,
seid von Gott geliebt und teuer erkauft.
Ich finde es richtig, dass man ihn hoch ehrt
und dass man zu ihm gehört und ist getauft.
So viel hat der Vater im Himmel getan:
Hat Jesus zu uns auf die Erde geschickt.
Das Angebot steht, so nimm es nur an.
Wer an Jesus glaubt, hat den Himmel erblickt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.