Liebe Gemeinde!
„Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott."
Mit diesen gewichtigen Worten beginnt der Predigttext für den heutigen Sonntag. Sie stehen wie ein Vorzeichen, wie eine Überschrift über dem ganzen Kapitel. Wir finden das Kapitel im 3. Buch Mose oder, wie es auch heißt, im Buch Levitikus im Alten Testament. Dieses 3. Buch Mose ist im Grunde eine Ansammlung von Geboten, Gesetzen und Regeln für das religiöse und soziale Leben der Israeliten. Auch das 19. Kapitel enthält viele Regeln und Gebote. - Aber als Vorzeichen steht das große und bedeutungsschwangere Wort: „heilig“.
Wir sollen also heilig sein, weil Gott heilig ist. Und wie geht das? Ganz klar, könnte man sagen: Wenn wir die Gebote alle befolgen, die diesem Aufruf in Kapitel 19 folgen, wenn wir danach handeln, dann sind wir heilig. Das klingt nach ziemlich viel Pflicht und Moral. Und ich höre schon viele Menschen aus unserer Gemeinde sagen: „Na ja, so heilig bin ich nicht.“ Denn die Heiligen, das sind doch die, die schier Übermenschliches geleistet haben, die sich für ihren Glauben haben hinrichten lassen, die sich bis zum Letzten aufgeopfert haben, die Vorbildliches geleistet und mindestens das Bundesverdienstkreuz bekommen sollten …. Beim Wort „heilig“ denken viele an den Heiligen Geist, die Heilige Dreifaltigkeit oder unsere katholischen Nachbarn an den Heiligen Vater in Rom, alles Mächte und Personen, die für uns unerreichbar oder weit weg sind. Wie sollen wir da heilig sein?
Was ist das überhaupt: „heilig“? Heilig ist erst einmal alles, was zu Gott gehört. Nicht mehr und nicht weniger. So gesehen ist man bereits heilig, wenn man getauft ist oder zumindest die Nähe Gottes sucht. Wenn mein Leben vom Glauben an den dreieinigen Gott getragen wird, dann bin ich heilig. Der Glaube, nicht die Moral stehen erst einmal im Vordergrund. Der große mittelalterliche Mystiker Meister Eckhardt hat das bereits um 1300 sehr schön auf den Punkt gebracht. Ich zitiere:
„Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun, man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen.“
Ein ganz tolles Zitat ist das: Heilig macht mich nicht eine noch so große und beachtenswerte Ansammlung von guten Taten. Heilig bin ich in der Gemeinschaft mit Gott. Man könnte es auch so ausdrücken: Heiligkeit geht von innen nach außen, nicht von außen nach innen. Darauf weist Meister Eckhardt zu Recht hin. Aber, und jetzt kommt das große und wichtige „Aber“: Die Heiligkeit ist kein Luftschloss, keine heiße Luft, kein Wolkenkuckucksheim. Es ist richtig, dass du Heiligkeit bei Gott allein findest. Aber das Heilige soll auch auf die Erde kommen und dort Kreise ziehen. Und da sind wir nun bei den Regeln und Geboten, die unser Leben prägen sollen. Ich lese Ihnen einmal den ganzen Predigttext vor, eine Auswahl von Versen aus dem 19. Kapitel des Buches Levitikus:
„Und der HERR redete mit Mose und sprach: Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott. Ein jeder fürchte seine Mutter und seinen Vater. Haltet meine Feiertage; ich bin der HERR, euer Gott. Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der HERR. Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR. Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.“
Liebe Gemeinde! Ich erinnere noch einmal an meine Worte vor der Lesung: Nicht das, was wir tun, macht uns heilig. Aber zur Heiligkeit gehört, Gutes zu tun. In diesem Zusammenhang fällt mir auf, dass im Wort „heilig“ der verwandte Begriff „heil“ enthalten ist: Wer heilig ist oder erfüllt ist vom Heiligen, der möchte „heil“ werden und der sorgt dafür, dass Heilung voranschreitet. Heiligkeit und Heil. Ähnlich verwenden wir ja das Wort „heilig“ im profanen Alltag: Wenn mir z.B. ein gutes Frühstück „heilig“ ist, oder mein Feierabend-Bier, oder der Sauna-Besuch am Donnerstagabend, dann bedeutet das ja: Darauf kann und möchte ich nicht verzichten. Denn das tut mir gut. Das brauche ich, um mein persönliches Gleichgewicht zu finden. Ich will jetzt nicht über Feierabend-Biere und den Saunabesuch diskutieren. Mir geht es darum, dass wir mit dem Begriff „heilig“ auch im Alltag das persönliche Wohlbefinden verknüpfen. Auch der Glaube an Gott soll mir ja gut tun, mir helfen, mich stärken oder trösten.
Nun sagt aber Gott in unserem Predigttext: Schön und gut. Aber es geht nicht nur um dein persönliches Heil und Wohlergehen, sondern es geht auch um das Heil der anderen. Denn du bist nicht allein auf der Welt. Wenn die Heiligkeit Gottes auf der Erde Kreise ziehen soll, dann muss es auch meinem Nächsten gut gehen, auch dem Fremdling, der bei dir wohnt, auch deinem Vater und deiner Mutter, auch deinem Bruder oder deiner Schwester, auch den Personen, die für dich arbeiten, auch deinem Gegner, mit dem du vor Gericht ziehst …. So könnte man die Gebote im 19. Kapitel des Buches Levitikus zusammenfassen. Kurz und gut: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Heilig sein, heißt also: Mir geht es nur dann wirklich gut, wenn es auch den anderen neben mir gut geht. Alles andere ist Selbstherrlichkeit und Egoismus.
Aber umgekehrt gilt auch: Nächstenliebe, die nicht von innen herauskommt, sondern nur zur Schau getragen wird, ist auch keine Heiligkeit, sondern höchsten scheinheilig. „Gute und fromme Werke machen noch lange keinen guten und frommen Menschen, sondern ein guter und frommer Mensch tut gute und fromme Werke.“ Das hat schon Martin Luther vor über 500 Jahren geschrieben. Und das gilt bis heute. Der erste Schritt geht nach innen, führt mich ins Heiligtum, in die persönliche Begegnung mit Gott. Das muss nicht zwingend eine Kirche sein. Für viele Menschen ist es das. Aber ich kann natürlich auch im Wald oder auf einem Berggipfel oder am Strand zu Gott finden. Wichtig, ist, dass ich von innen heraus leuchte. Und das kann keine noch so gute Tat bewirken. Es geht vielmehr andersherum. Darum ist es wichtig für uns als Christen und für uns als Kirche, dass wir Gelegenheiten schaffen zur Begegnung mit dem Heiligen, mit Gott, und dass wir unser Heil finden. Alles andere findet sich dann, sollte aber nicht vergessen werden. Darum braucht es die Gebote: zur Orientierung und als freundliche Erinnerung.
Liebe Gemeinde! Zur Veranschaulichung möchte ich Ihnen eine berührende Geschichte von Oscar Wilde vorlesen.
In seiner Erzählung spielen Kinder jeden Nachmittag in dem verlassenen großen Garten eines Riesen. Eines Tages kehrt der Riese zurück. Er vertreibt die Kinder aus seinem Garten, baut eine hohe Mauer ringsherum und stellt ein Schild auf: Betreten bei Strafe verboten. Da erlischt alles Leben, ewiger Winter breitet sich aus. Eines Tages aber singt ein kleiner Vogel im Garten. Der Riese sieht, wie die Kinder durch ein Mauerloch zurückgekommen sind - und mit ihnen der Frühling. Überall sitzen die Kinder in den Bäumen, ein Kind aber ist zu klein, um auf den Baum zu kommen. Da schmilzt das Herz des Riesen. Er hilft dem Kind und bekommt dafür einen Kuss. Nun reißt der Riese die Mauer ein und lädt die Kinder ein, immer in dem Garten zu spielen. Jeden Nachmittag kommen die Kinder, nur der kleine Junge, der das Herz des Riesen zum Schmelzen gebracht hatte, bleibt verschwunden. Erst an seinem Todestag sieht der Riese den Jungen wieder. Als er dicht vor ihm steht, wird er rot vor Zorn und fragt: »Wer hat es gewagt, dir etwas anzutun?« Denn auf den Handflächen des Kindes waren die Male zweier Nägel, und die Male zweier Nägel waren auch auf den kleinen Füßen. »Wer hat es gewagt, dir etwas anzutun?«, schreit der Riese, »sag es mir, damit ich mein großes Schwert nehmen und ihn erschlagen kann.« »Niemand«, antwortet das Kind, »denn dies sind die Wundmale der Liebe!« »Wer bist du?«, fragt der Riese, seltsame Ehrfurcht ergreift ihn, und er kniet vor dem Kinde nieder. Und das Kind lächelt den Riesen an und sagt zu ihm: »Du ließest mich einst in deinem Garten spielen, heute sollst du mit mir in meinen Garten kommen, in das Paradies.« Und als die Kinder an diesem Nachmittag in den Garten kommen, finden sie den Riesen tot unter dem Baum, über und über bedeckt mit weißen Blüten. (zitiert nach: Hans-Martin Lübking: Beim Wort genommen, S. 172)
Liebe Gemeinde! Der cholerische und am Anfang ziemlich selbstherrliche Riese, der eine Mauer um seinen Garten gebaut hat, - er wird am Ende zu einem Heiligen. Auslöser für die Heiligkeit waren nicht seine guten Taten, im Gegenteil. Die guten Taten kamen erst später. Auslöser war die Begegnung mit dem heiligen Kind. Wir wissen natürlich, dass dieses Kind Jesus Christus war. Die Begegnung mit Jesus heilt den Riesen von seiner Ich-Bezogenheit. Heilmittel ist die Liebe, die den Riesen von innen heraus verändert. Der Riese wird heilig. Und die Heiligkeit brachte den Riesen dazu, Mauern einzureißen und sich zu öffnen. Das ist der Weg. Nur so kann unsere Welt heil und heilig werden. Lasst uns darum nicht aufhören, die Nähe Gottes zu suchen und andere zu Gott einzuladen. Die guten Taten sind wichtig und sollen nicht vergessen werden. Aber sie sind der übernächste Schritt.
Lasst uns dafür sorgen, dass Gottes große Liebe in uns Menschen fällt und dass sie in unserem Leben Kreise zieht. Singen wir: „Ins Wasser fällt ein Stein.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.