Liebe Gemeinde!

Dass wir derzeit in stürmischen Zeiten leben, das wird wohl niemand ernsthaft bestreiten, - wobei sich der Begriff „stürmisch“ aktuell weniger auf das Wetter bei uns bezieht. Aber im Blick auf die weltpolitische Lage und auf die Probleme und Herausforderungen in unserem Land, da wirbelt im Moment schon vieles wild durcheinander, natürlich angefacht von einem Bundestagswahlkampf, der sich wie in einem Zeitraffer abspielt. Die Wahlen mussten ja vorgezogen werden. Demensprechend wild, aufgeregt und extrem zugespitzt wird derzeit diskutiert, kritisiert, polarisiert und werden Anträge gestellt.

Unserer Kirche bläst schon seit einiger Zeit ein stürmischer Wind ins Gesicht, angefacht durch die beängstigende Zahl an Kirchenaustritten und durch abfällige, manchmal durch regelrechte Hasskommentare in sozialen Netzwerken. Manchen wäre es wirklich am liebsten, unsere Kirchen würden sich einfach in Luft auflösen, weil sie ja sowieso niemand braucht. Generell gilt: Das Klima in unserer Gesellschaft ist sehr rauh und an vielen Stellen kalt geworden.

Wenn dann noch ganz persönliche „Stürme“ dazukommen, weil sich gesundheitliche Krisen oder Krisen in der Familie einstellen, dann wird man vollends unruhig, - und auch ängstlich. Man weiß ja nicht so recht, wie es weitergeht. Und man hat Angst vor dem Untergang.

In diesem Zusammenhang könnte der für den heutigen Sonntag vorgesehene Predigttext nicht besser passen. Im Markusevangelium, im 4. Kapitel, steht die berühmte Erzählung von der Stillung des Sturms durch Jesus. Hören wir auf die Worte des Predigttextes:

„Und am Abend desselben Tages sprach Jesus zu seinen Jüngern: Lasst uns hinüberfahren. Und sie ließen das Volk, das zu Jesus gekommen war, gehen und nahmen Jesus mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. Plötzlich erhob sich ein großer Windwirbel und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. Und Jesus war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Da weckten sie ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stille. Und Jesus sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Sie aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!“

Liebe Gemeinde! Ich möchte diese bekannte Geschichte mit Euch zusammen gedanklich in vier Teile zerlegen. Jeden dieser Teile versehe ich mit einer prägnanten Überschrift und gebe dann einige Erläuterungen dazu.

1. Teil: Der Aufbruch zu neuen Ufern

Die Erzählung beginnt damit, dass Jesus zum anderen Ufer des Sees Genezareth aufbrechen möchte. Am hiesigen Ufer hatte sich wieder einmal eine große Menschenmenge versammelt, um den großen Prediger und Wunderheiler zu sehen und zu hören. Jesus redet vom Boot aus zu den Leuten am Ufer. Das hat er öfter so gemacht. Jetzt, es wird wohl gegen Abend sein, schickt er die Menschen nach Hause. Dann brechen Jesus und die Jünger im wahrsten Sinne des Wortes „zu neuen Ufern“ auf. Dieser Neuaufbruch ist wichtig. Das Evangelium, die frohe Botschaft, dass Gott unter den Menschen ist, dass das Reich Gottes angebrochen ist, diese Botschaft muss in die ganze Welt hinaus. Dazu ist es aber notwendig, zu neuen Ufern aufzubrechen. Die ganze Bibel ist voll von solchen Neuaufbrüchen: Gott schickt Abraham in ein neues Land. Gott beruft Mose, um das Volk Israel aus Ägypten in das gelobte Land Kanaan zu führen. Später muss das Volk Israel nach Babylon ins Exil, - und später wieder zurück. Und dann, Jahrhunderte später, wird Gott völlig überraschend Mensch. Dieser Jesus kommt nicht nur zu den Menschen im Volk Israel. Sondern seine Botschaft richtet sich an die ganze Welt. Dazu beruft Jesus Jünger. Er holt sie aus ihrem Arbeitsalltag heraus. Die Jünger sollen alles stehen und liegen lassen und Jesus nachfolgen.

Gott will diesen Aufbruch – immer wieder. Nur so, kann sein Plan mit uns Menschen Wirklichkeit werden. Aber das hat zur Folge, dass sich Menschen von vertrauten Dingen lösen muss. Das ist logisch, aber gar nicht so einfach. Da braucht man schon eine gewaltige Prise Gottvertrauen und genauso viel Mut und persönliches Format.

Die Zeichen unserer Zeit stehen ebenfalls im Zeichen eines Neuaufbruches. Wir leben in einer Zeit, in der ganze Völkerscharen als Flüchtlinge nach Europa aufbrechen. Ganz egal, aus welchen Motiven die Flüchtlingsströme fließen. Ganz egal, ob wir sie nun aufnehmen und wieviele wir aufnehmen. Ganz egal, ob und wann welche Gesetze im Bundestag beschlossen werden: Es ist Aufbruchszeit. Imd, ich habe es vorhin schon gesagt: Auch in der Kirche ist Aufbruchszeit. Es gibt auch einen Flüchtlingsstrom aus unseren Kirchen, die so genannte Austrittsbewegung. Und die Kirchen reagieren und verändern ihre Strukturen. Wir können nicht mehr so weiterleben, wie vor 10, 20 oder 50 Jahren. Allein das Wort „Klimawandel“ drückt es aus: Es muss sich etwas wandeln in uns und bei uns. Sonnst gehen wir im Sturm der Veränderungen unter.

Und da bin ich schon beim zweiten Teil der Erzählung aus dem Markusevangelium: Kaum sind die Jünger auf dem See, da bricht völlig unvermittelt ein Sturm los. Auf dem See Genezareth ist das nichts allzu Ungewöhnliches. Der See liegt etwa 200m unter dem Meeresspiegel, ist von hohen Bergen umgeben und liegt nahe am Meer. Diese Kombination erzeugt eine Thermik, die manchmal innerhalb von Sekunden den eben noch ruhigen See in ein stürmisches Gewässer verwandeln kann. Die Jünger bekommen es mit der Angst. Und das hat einen Grund. Darum lautet die Überschrift über den zweiten Teil der Geschichte:

2. Teil: Jesus ist da, - und doch nicht an meiner Seite

Die Jünger versuchen erst einmal aus eigenen Kräften den Gewalten des Sturms Herr zu werden. Schließlich sind die Jünger erfahren im Umgang mit einem Boot. Einige von ihnen sind Fischer. Aber vergebens. Das Boot läuft schon voll. Was die Sache aber noch schlimmer macht. Und darum geht es letztlich in der Geschichte: Jesus schläft scheinbar völlig ungerührt hinten im Boot. Das macht die Jünger nicht nur fassungslos: „Wie kann der da so ruhig schlafen?“. Es macht sie vor allem einsam: „Wir sind ganz auf uns alleine gestellt. Gott hat uns verlassen.“ Die Jünger spüren: Jesus ist da, aber irgendwie auch nicht da. Er liegt da und träumt vor sich hin, befindet sich gerade in einer anderen Welt, wenn man so will: In der Welt der Träume.

Eine solche Gottverlassenheit erleben nicht wenige Menschen bis heute, wenn die Stürme des Lebens über sie hereinbrechen. Manche sind dann verzweifelt. Und sie zweifeln: Gibt es Gott wirklich? Stimmt es wirklich, wenn Jesus sagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“? Was hilft es, wenn er bei mir ist – und dauernd schläft. Dann muss ich mich ja doch wieder alleine um alles kümmern. Aus dem Zweifel kann auch Wut werden. Man hadert mit Gott. Und manche kehren ihrem Gott, dem sie einmal vertraut haben, den Rücken.

Nun ja, die Jünger in der Geschichte kehren Jesus nicht den Rücken zu, sondern sie wecken ihn auf – und sparen dabei nicht mit Vorwürfen: „Sag mal, Jesus, kümmert es dich gar nicht, dass wir hier untergehen?“. Es folgt der dritte Teil der Geschichte. Jesus steht auf, - und das Wasser beruhigt sich - schlagartig. Was für ein Wunder, - oder auch nicht. Es ist bekannt, dass die gefährlichen Fallwinde am See Genezareth oft genauso schnell wieder gehen, wie sie gekommen sind. Aber ich will an dieser Stelle gar nicht darüber spekulieren, wieviel Übernatürliches und wie viel ganz normale Naturereignisse in dieser biblischen Geschichte stecken. Es geht dem Evangelisten Markus um etwas ganz anderes in der Erzählung. Es geht um Angst und Vertrauen. Darum überschreibe ich diesen dritten Teil der Geschichte mit

3. Teil: Warum so furchtsam?

Genau das sagt Jesus seinen Jüngern, nachdem sich die Wasseroberfläche beruhigt hat. „Warum seid ihr so furchtsam? Ich bin doch bei euch. Habt ihr keinen Glauben?“ Das sagt uns Jesus heute, hier und jetzt auch. Warum so furchtsam? Habt ihr keinen Glauben?

In einem Telefonat hat mir eine Frau, etwa in meinem Alter, von ihrer Long-Covid-Erkrankung erzählt. Seit einem Jahr hat sie ihre Wohnung im 4. Stock, ohne Aufzug, nicht mehr verlassen. Die körperliche Kraft war völlig weg. Manchmal lag die Frau tagelang nur im Bett. Jetzt endlich, nach einem Jahr, kann sie mühsam ein paar Treppen im Treppenhaus gehen. Aber es reicht immer noch nicht bis nach unten an die Haustüre. Doch es werden jede Woche ein paar Stufen mehr. Die Frau ist tief gläubig. Sie ist überzeugt, dass ihr Glaube an Jesus sie gerettet hat, dass sie nicht völlig verzweifelt ist. Und dann sagt die Frau einem bemerkenswerten Satz zu mir: „Jetzt wo ich das alles geschafft habe mit Gottes Hilfe, warum soll ich mich da vor einem Trump, einem Putin oder vor der AfD fürchten?“

Warum so furchtsam, liebe Gemeinde. Ja, unser Glaube erspart uns das alles nicht, die schweren Zeiten, die Krisen, die Tage, Monate, Jahre, wo nichts vorwärts geht, wo ich meine unterzugehen. Aber Jesus ist bei uns. Ich habe mir schon ein paarmal überlegt, ob sich der Sturm nicht auch beruhigt hätte, wenn Jesus nicht aufgestanden wäre, wenn die Jünger Jesus nicht geweckt hätten …. Freilich sind solche Gedanken völlige Spekulation. Aber Jesus hatte sicher einen Grund, warum er mitten im Sturm so friedlich schläft. Ich glaube nicht, dass er seine Jünger ärgern oder auf die Probe stellen wollte. Aber wie schon gesagt: Das ist alles Spekulation.

Wie dem auch sei: Jetzt ist der See Genezareth wieder ruhig. Aber interessanterweise sind es die Jünger nicht. Jesus sagt: Warum habt ihr Angst? Ich bin doch da. Aber die Jünger fürchten sich noch viel mehr. So heißt es am Ende der biblischen Geschichte: „Sie aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!“ Da ist noch viel Unruhe und Unverständnis in den Jüngern. Dieses Unverständnis zieht sich wie ein roter Faden durch das Markusevangelium. Passend dazu kann man sagen, und das ist meine vierte und letzte Überschrift über den Schluss der Geschichte:

4. Teil: Noch mancher Sturm wird kommen …

Ja, die Jünger von Jesus werden noch einige Stürme auszuhalten haben: Stürme der Entrüstung, Streit, Scheitern und dann der große Schock, als Jesus gekreuzigt wird und stirbt – und nichts passiert. Zumindest zunächst passiert nichts. Zwei Tage lang. Die Gegner triumphieren und spotten. Aber am dritten Tag sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. Und wieder gibt es einen Aufbruch zu neuen Ufern, den Aufbruch zu einem neuen Leben. Doch das ist eine andere Geschichte, die uns bald wieder beschäftigen wird.

Wir bleiben heute zunächst einmal bei den Jüngern im Boot. Uns wird klar: Noch mancher Sturm wird auch über uns kommen und uns ins Zweifeln bringen, - oder auch nicht. Dann lasst uns nicht vergessen, dass wir Jesus „mit im Boot“ haben und dass er unseren Sturm stillen wird. Amen.